Russischer Klangrausch

Rachmaninow mit Dimitris Sgouros in Konstanz

22. Januar 1993 - Südkurier

 

Flügelglocken, rechts Akkorde, links dunkle Bässe, tönen näher, läuten, dröhnen, schallen — und dann singen die satten G-Saiten russische Seele. Solch ein Anfang ist grandios, wenn Dimitris Sgouros mit langem, herrlichem Crescendo einläutet und die Südwest-Philharmoniker so recht mit Schwung und ölfarbenen Klangbildern die Seelenlandschaft des zweiten Klavierkonzerts von Rachmaninow malen. Hornfanfaren rufen, wecken die anderen Bläser, sie kommen und stimmen zu gewaltigem Fortissimo ein, werden wieder stiller - und dann klagen die Violinen den ganzen Weltschmerz in fallender melodischer Gefühlslinie. Das war pakkend vom Orchester am Beginn der vierten Sinfonie von Tschaikowsky vorgeführt: Bildermusik und Psychodram.

Diese beiden Werke der russischen Hoch- und Spätromantik, beide opulent in Ausdruck und Aufwand, waren im 5. Abo-Konzert im Konzil vereint. Die Tiefe des Thematischen gelang wie die Oberfläche des Ornamentalen, wenn auch nicht alle Takte mit gleichweniger Bravour die Schwingungen sortierten. So gab es im ersten Rachmaninow-Satz leichte Verschiebungen zwischen Solo und Orchester, so wirkte die kontrapunktische Episode in Tschaikowskys Kopfsatz doppelt nervös, einmal weil das Klangbild diffus schien, zum anderen, weil der Dirigent mit flatternder Rechten diesen Eindruck sichtbar machte.

Aber derlei Momente wurden wegmusiziert vom großen Klangrausch, der immer wieder das Tutti sammelte und zu prachtigem Pathos auftrumpfte. Dimitris Sgouros, einst Wunderknabe, nun etablierter Pianist, spielte den vertrackten Klavierstil Rachmaninows so, als wäre alles klar, leicht, virtuoses Spiel. Man hatte zuweilen den Eindruck, er wolle gegen den Seelenbombast ein wenig attische Klarheit ins Spiel bringen. So tönten wohl die orthodoxen Glokken des Beginns bis zur Tastenwucht, doch wie er etwa die Oktav-Repetitionen der Durchführung in hell klingende Glöckchen verwandelte, präzis und ohne Klingelei-Kolorit, wie er nach. Trugschluß-Fortissimo und Kurs-Kadenz mit den Violinen zusammen ein Stück feinster Kammermusik aufführte, wie er das zweite Finalthema ins Lichte verwandelte, das schuf Kontraste zum schweren Satz, der weithin herrschte. Aber Sgouros verzärtelte damit keineswegs, verband vielmehr Kraft und Kunst im Tastenzauber, den er - etwa bei den donnernden Akkorden des Schlusses oder der Anschlagshärte des Groteskmarsches am Finalbeginn oder bei rasenden Skalen über die ganze Tastatur - nicht zögerte, mit aller Brillanz loszulassen. So hatte das Werk Spannung, Vielfalt, musikalische Arbeit und nicht nur schön-tiefe Stellen der „russischen Seele“.

Das Orchester spielte konzentriert, dynamisch, aber es erwies sich bei Tschaikowsky als merklich steigerungsfähig. GMD Thomas Koncz ließ die Einleitung packend, zwingend, mit dynamischer Klangregie ins Werk führen. Der erste Satz jedoch brachte nicht immer, was die Fanfaren verheißen hatten. Der Neunachteltakt klang zuweilen, als seien je zwei in drei Sechsachteltakte auseinanderdividiert, der leichte Dreier- und Walzeranklang ging fast verloren. Dafür gab es delikate Klangbilder: Violinterzen zur Pianissimopauke, fein punktierter Klarinettentanz, Gipfelklänge in der Coda. Die drei folgenden Sätze waren um so vortrefflicher: Die Melodieverwandlungen im Andantino hatten Klangreiz und Solofeinheit (Holzbläser), das Pizzicato-Scherzo mit den sauber ausgeführten Bläser-Trios samt glänzender Piccolo-Pfiffigkeit erfreute und erfrischte in der sonst zuweilen schwülen Grübelharmonik. Das Finale machten die Philharmoniker vom ersten Zwei-Oktaven-Sturz der Violinen über die Volksliedvariationen bis zum schmetternden Geschwindmarsch der Coda zum großen Orchesterfest - und der Schlußbeifall feierte mit.

H.W.


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